Politik streitet über Homeoffice – Erstes Meeting um 7 Uhr, letzte Mail um Mitternacht — soll das erlaubt sein? (2024)

Der Siegeszug des Homeoffice birgt Schwierigkeiten. Die Bürgerlichen wollen die tägliche Arbeitszeit auf bis zu 17 Stunden verteilen, die Linken fordern das Recht auf Nichterreichbarkeit.

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Jacqueline Büchi

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Ein Mittagessen mit Arbeitskollegen – das hat für Sina M. (Name geändert) mittlerweile Seltenheitswert. Knapp vier Jahre ist es her, dass ihr Team wegen der Corona-Pandemie ins Homeoffice geschickt wurde. So richtig zurückgekehrt ist die Angestellte einer Versicherung seither nie mehr. Wann immer möglich, arbeitet sie an ihrem grossen Schreibtisch zu Hause. Nur an den sogenannten Teamtagen fährt sie ins Büro, um an Sitzungen teilzunehmen.

Sina M. ist glücklich mit der Situation. Zwischen zwei Telefonaten kann sie zu Hause eine Wäsche in die Maschine werfen. Am Feierabend holt sie ihre Kinder pünktlich in der Kita ab. Wenn nötig, setzt sie sich noch einmal an den Laptop, wenn die Kleinen schlafen.

Menschen wie Sina M. dürften die Mitglieder der nationalrätlichen Wirtschaftskommission im Kopf gehabt haben, als sie sich vergangene Woche dafür aussprachen, das Arbeitsrecht im Homeoffice zu lockern. Heute sieht das Gesetz vor, dass zwischen Arbeitsstart und -ende nicht mehr als 14 Stunden liegen dürfen – egal, wie lang die Pausen dazwischen dauern. Neu soll der Zeitrahmen in gewissen Fällen auf 17 Stunden ausgedehnt werden.

Am Nachmittag biken, ab Abend arbeiten

Die Idee geht auf einen Vorstoss von FDP-Präsident Thierry Burkart zurück. Der Jurist argumentiert: Wer um 7 Uhr morgens die Arbeit aufnehme, dürfe nach geltendem Gesetz ab 21 Uhr nicht mehr arbeiten. Dabei gebe es durchaus Menschen, die gern am Abend noch ein paar Mails beantworteten, wenn sie davor zum Beispiel am Nachmittag biken gewesen seien.

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Nach der gleichen Logik soll es Arbeitnehmenden in gewissen Bereichen künftig erlaubt sein, die heute vorgeschriebene Nachtruhe von elf Stunden kurz zu unterbrechen oder am Sonntag zu arbeiten. Letzteres ist heute nur mit Bewilligung möglich.

Unternehmer Marcel Dobler, ein Parteikollege Burkarts, sagt: «Ich kenne viele Menschen, die bei schönem Wetter gern unter der Woche etwas mit der Familie unternehmen oder Sport treiben und dafür freiwillig am Wochenende oder am Abend ein paar Stunden arbeiten.» Insofern entspreche die geplante Anpassung des Arbeitsgesetzes lediglich der gelebten Realität – und einem Bedürfnis der Arbeitnehmenden.

«Gratisarbeit, Stress und Burn-out»

Die Einschätzung kontrastiert hart mit jener der Gewerkschaften. Diese geisseln Burkarts Vorschlag als «skandalös radikal». Wenn die gesetzlichen Bestimmungen zu den Ruhezeiten nicht mehr eingehalten werden müssten, könnten Arbeitgeber kurzfristig Nachtarbeit oder Sonntagsarbeit anordnen. «Die Folgen wären Gratisarbeit, Stress und Burn-out».

Zu den Kritikern gehört David Roth, Luzerner SP-Nationalrat und Gewerkschafter. Er anerkennt zwar, dass sich die Arbeitsrealität geändert hat. «Niemand hat ein Problem damit, wenn ein Arbeitnehmer aus eigenem Antrieb am Abend ein Mail beantwortet.» Werde das Arbeitsgesetz jedoch aufgeweicht, steige der Druck, sich für abendliche Einsätze zur Verfügung zu stellen. Auch Pikettentschädigungen oder Sonntagszulagen würden so infrage gestellt.

Vor allem aber verwische die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben weiter. «Schon heute setzt die ständige digitale Erreichbarkeit vielen Menschen zu.» Aus Roths Sicht ist deshalb klar: «Nötig sind Regeln, die exakt in die gegenteilige Richtung gehen: Wir müssen den Arbeitnehmenden das Recht zurückgeben, nach Feierabend und am Wochenende einfach abzuschalten.»

Das Recht, den Chef zu ignorieren

Tatsächlich werden solche Gesetze vielerorts diskutiert – oder sind schon in Kraft. Erst vor zwei Wochen verabschiedete der australische Senat ein Gesetz, das explizit festhält, dass Arbeitnehmende in ihrer Freizeit nicht auf berufliche Anrufe oder Nachrichten reagieren müssen.

Länder wie Spanien, Portugal oder Frankreich kennen ähnliche Bestimmungen. In der Schweiz versuchten in den letzten Jahren zwei grüne Politikerinnen, ein Recht auf ungestörte Freizeit ins Gesetz zu schreiben: Die Tessiner Nationalrätin Greta Gysin und die designierte Parteipräsidentin Lisa Mazzone reichten dazu je eine Motion ein. Beide Vorstösse wurden jedoch abgeschrieben, weil sie nicht rechtzeitig im Rat behandelt wurden.

Noch weiter ging der Gewerkschafter und SP-Nationalrat Corrado Pardini. In einem offenen Brief machte er sich 2016 dafür stark, dass die Zeitspanne zwischen 19 und 7 Uhr in den Gesamtarbeitsverträgen als «internetfreie Zeit» definiert wird.

Sein Parteikollege David Roth räumt ein, dies sei heute wohl in vielen Branchen nicht praktikabel. Doch auch er sagt: «Für die mentale Gesundheit ist es verheerend, wenn am Abend ständig Slack-, Teams- oder gar Whatsapp-Nachrichten auf dem Handy aufpoppen.» Die Sozialpartner müssten eine Lösung für dieses Problem finden – sonst führe kein Weg an einer Regulierung vorbei.

«Niemand muss mehr arbeiten»

Einzelne Schweizer Unternehmen kennen heute bereits auf freiwilliger Basis Nichterreichbarkeits-Klauseln. So halten die Post und die Swisscom im GAV fest, dass Mitarbeitende in der Freizeit nicht gestört werden dürfen.

Für Thierry Burkart hat die eine Diskussion nichts mit der anderen zu tun. Die Kritik der Gewerkschaften weist er vollumfänglich zurück. Er betont, es gehe ihm explizit nur um Menschen, die ihre Arbeitszeit selber festlegen könnten und somit ihre Arbeit freiwillig in mehrere Häppchen aufteilen wollten. «Niemand muss unter dem Strich mehr arbeiten, der Arbeitgeber darf die Arbeitsaufteilung oder die Sonntagsarbeit nicht anordnen.»

An den Vorschriften zu Pikettentschädigungen oder Sonntagszulagen ändere sich nichts. Über ein gesetzlich verankertes Recht auf Nichterreichbarkeit könne man separat verhandeln.

In einem nächsten Schritt arbeitet die nationalrätliche Wirtschaftskommission nun einen Vorentwurf für ein Gesetz aus. Unter anderem müsse präzisiert werden, welche Arbeitnehmenden genau von der Änderung betroffen wären, sagt Kommissionspräsident Thomas Aeschi (SVP). Im Rahmen der Arbeiten sollen sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberseite angehört werden.

Persönlich befürwortet Aeschi die Flexibilisierung. «Das Arbeitsgesetz stammt aus den 1960er-Jahren. Besonders in den letzten 20 Jahren hat die Digitalisierung zu neuen Arbeitsformen geführt, die im Gesetz schlicht nicht abgebildet sind.»

«Homeoffice wird nicht mehr verschwinden»

Wenig deutet darauf hin, dass die Akzeptanz des Homeoffice in der Schweiz wieder abnimmt. Laut einer Untersuchung der Fachhochschule Nordwestschweiz arbeiteten im Jahr 2022 rund 46 Prozent der Schweizer Arbeitnehmenden hin und wieder ausserhalb des Büros – viel mehr als vor der Pandemie.

Zwar gibt es Unternehmen, die ihre Mitarbeitenden heute gern wieder häufiger im Büro sähen. Doch dabei handle es sich lediglich um eine Suche nach der optimalen Balance, sagt Studienautor Johann Weichbrodt. Er ist sich sicher: «Das Homeoffice wird nicht mehr verschwinden.»

Eine Folge des Trends ist, dass viele Unternehmen ihre Büroflächen reduzieren. Eine aktuelle Umfrage des Immobilienberatungsunternehmens JLL zeigt: Vor Ausbruch der Pandemie stellten noch zwei Drittel der Unternehmen jedem Mitarbeiter einen eigenen Arbeitsplatz zur Verfügung – für die Zukunft plant dies nur noch gut jede vierte Firma.

Auch die Arbeitgeberin von Sina M. hat längst Büroplätze abgebaut. M. sagt: «Ausserhalb der Teamtage ist es zuweilen schwierig, einen Arbeitsplatz zu finden.» Für manche Mitarbeiter sei das mühsam – denn nicht alle fühlten sich im Homeoffice so wohl wie sie.

Jacqueline Büchi ist Autorin im Inlandressort und Mitglied der Tagesleitung der Redaktion Tamedia. Schwerpunkt ihrer Berichterstattung ist die Gesundheits- und Gesellschaftspolitik. Sie startete 2008 als Radiojournalistin und durchlief seither verschiedene Stationen bei Medien im In- und Ausland.Mehr Infos

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